Sonderleitfaden zum Münchener Modell
des Familiengerichts München für Verfahren (inklusiv einstweiliger Anordnungsverfahren, aber ohne Gefährdungsverfahren nach § 1666 BGB), die den Aufenthalt des Kindes, das Umgangsrecht, die Herausgabe des Kindes oder Sorgerechtsverfahren gem. § 155a IV FamFG betreffen (Version 1.7.2019)
In den Sonderfällen Häusliche Gewalt (auch miterlebte oder mitgeteilte Gewalt gefährdet das Kindeswohl), Gewalt gegen Kinder, Sexueller Missbrauch, jeweils das Kindeswohl im Sinne von deutlich eingeschränkter Elternfunktion gefährdende psychische Erkrankungen und Sucht wird nachfolgender Ablauf des gerichtlichen Verfahrens empfohlen. Die Sicherung des Kindeswohls und des Opferschutzes hat dabei absoluten Vorrang. Die Beweisbarkeit ist bei einem konkreten Verdacht zunächst nachrangig.
- Im Antrag beziehungsweise in der Antragserwiderung soll das Thema des Sonderfalles in einer Sachverhaltsschilderung mit Hinweis auch auf bestehende oder einzuleitende strafrechtliche Ermittlungsverfahren, Gefährdungseinschätzung, Eskalationsgrad, Zeitpunkt der Trennung, berichtete Belastungsmomente des Kindes und eines Elternteils, eventuell bestehende Umgangsvereinbarungen und –durchführungen und Gefährlichkeitseinschätzung nach Art. 31, 51 Istanbulkonvention dargestellt werden. Die Bestellung eines Verfahrensbeistands, Kindesanhörung und getrennte Anhörung können bereits für den ersten Termin angeregt werden.
- Der Antrag wird dem anderen Elternteil zusammen mit der Terminsladung zugestellt; Jugendamt erhält per Fax Abschrift.
- Vorverfahrensliste, polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Akten über aktuelle oder frühere Vorfälle (ggf. nach Einholung eines Bundeszentralregisterauszugs) sowie familiengerichtliche Akten über Sorge- und Umgangsverfahren und in Gewaltschutzverfahren (in denen Kontaktverbotsverstöße nur aufgrund eines Ordnungsmittelantrags des Opfers vom Familiengericht geahndet werden können) werden vom Gericht umgehend beigezogen.
- Der Gerichtstermin soll binnen eines Monats stattfinden. Beide Elternteile haben grundsätzlich die Pflicht, zu erscheinen. Eine Verlegung des Termins ist nur in besonderen Ausnahmefällen möglich und soll einvernehmlich beantragt werden. Das Gericht prüft und ordnet bei erforderlichem Schutz für den betreuenden Elternteil dessen getrennte Anhörung an und weist den anderen Elternteil auf seine Abwesenheitspflicht bzw. die Möglichkeit einer Durchsuchung durch einen Gerichtswachtmeister hin. Kinder sind nur auf Anordnung des Gerichts mitzubringen.
- Das zuständige Jugendamt nimmt mit der betroffenen Familie umgehend Kontakt auf. Dazu ist notwendig, bereits im Antrag Telefon-, Telefax-, Handynummern und gegebenenfalls eMail- Adressen aller Beteiligten bekannt zu geben. Soweit der zuständige Sachbearbeiter des Jugendamtes bekannt ist, ist auch dessen Name samt Fax- und Telefonnummer mitzuteilen. Die Kontaktdaten der geschädigten Person müssen auf deren Wunsch – insbesondere bei nachträglicher Bekanntgabe der Anschriftenänderung nach Verfahrenskostenhilfegewährung - vertraulich behandelt werden.
- Das Jugendamt trifft Feststellungen zur Gefährdung des Kindes, ggf. auch eines anderen Familienmitglieds, insbesondere des betreuenden Elternteils. Ggf. weist es wie auch alle anderen Beteiligten auf die Notwendigkeit getrennter gerichtlicher Anhörung sowie unter Beifügung des Sonderleitfadens mit allen Abschriften auf die Einschlägigkeit des Sonderleitfadens hin. Das Jugendamt klärt die Möglichkeit einer geeigneten Beratung ab und vertritt ein bereits bestehendes Münchner Hilfenetzwerk (www.muenchen.de beim Suchbegriff Münchner Hilfenetzwerk). Möchte die empfohlene Spezialberatungsstelle zum ersten Termin kommen oder hat programmgemäß eine gewaltzentrierte Beratungsstelle des Opfermerkblatts http://www.justiz.bayern.de/gericht/ag/m/lokal/02090/index.php teilzunehmen, wird dies dem Gericht unverzüglich mitgeteilt.
- Es sollen schriftliche Stellungnahmen der Beteiligten und des Jugendamtes mit Sonderfallbenennung erfolgen.
- Die Vertretung des Jugendamtes stellt im Gerichtstermin neben dem Ergebnis der Gespräche mit den Eltern auch seine Einschätzung der Gefährdungslage dar.
- Das Gericht spricht die Umstände des Sonderfalles an, bemühtsich um dessen Aufklärung, berücksichtigt die interdisziplinäre Risikoanalyse und gibt seine Einschätzung ab. Das Gericht kann eine getrennte Beratung der Beteiligten oder einen begleiteten Umgang anordnen, eine/n Sachverständige/n beauftragen oder im beschleunigten Termin vernehmen, einen Verfahrensbeistand / UmgangspflegerIn einsetzen oder den Umgang vorläufig ausschließen. Der vorläufige Umgangsausschluss kann ebenso wie eine vorläufige Sorgerechtsübertragung bei kindeswohlgefährdender Sucht- oder akuter psychischer Erkrankung oder Gefährlichkeit des Täters/der Täterin aus Gründen des Opferschutzes unter Beachtung dessen Persönlichkeitsrechts erforderlich sein. Die Gefährlichkeit des Täters/der Täterin ergibt sich etwa aus Anwendung erheblicher oder häufiger Gewalt, Waffenbesitz oder aus Opfersicht konkretisierter Bedrohung, Sucht oder unbehandelter psychische Erkrankung des Täters/der Täterin, Verstoß gegen Gewaltschutzbeschluss. Ein vorläufiger begleiteter Umgang statt des vorläufigen Umgangsausschlusses wie in Fällen von kindeswohlgefährdender Sucht- oder psychischer Krankheit oder häuslicher Gewalt ist vorzugswürdig, wenn bei begleitetem Umgang Sicherheit für Opfer und Kind gewährleistet ist, keine Gefahr der Retraumatisierung von Kind oder Opfer droht, Verantwortung für das Täterverhalten übernommen wird, kein beachtlicher Kindeswille entgegensteht und positive Beziehungserfahrungen mit dem Umgangsberechtigten vorhanden sind. Ein vorläufiger Umgangsausschluss kann aber bei insbesondere aufgrund eines polizeilichen Kurzberichts nachgewiesener Gewalt indiziert sein. Im Einvernehmen mit den Beteiligten sind auch die Einschaltung einer Clearingstelle oder die Überweisung in Therapien möglich.
- Bei einer zunächst getrennt geschlechtsspezifischen Co-Beratung in Gewaltfällen oder einer psychiatrischen bzw. Suchtberatung werden in einem Clearing- und Beratungsprozess die Bedingungen für den Umgang erarbeitet. Die Beteiligten sollen die Berater und die Umgangsbegleiter von der Schweigepflicht untereinander entbinden.
- Konnten die Eltern in der Beratung keine gemeinsame Lösung erreichen, findet spätestens vier Wochen nach entsprechender schriftlicher Mitteilung der Beratungsstelle an das Jugendamt und an das Familiengericht ein zweiter Gerichtstermin statt oder wird ein psychologisches / psychiatrisches Sachverständigengutachten ohne Anordnung nach § 163 II FamFG in Auftrag gegeben und/oder jetzt ein Umgangspfleger nach vorläufiger Umgangsregelung bestellt. Bei weiter bestehender kindeswohlgefährdender Sucht- oder akuter psychischer Erkrankung oder Gefährlichkeit des Täters/der Täterin kann in der Hauptsache auch von Amts wegen ein Umgangsausschluss auf die Dauer von mehr als einem halben Jahr und eine Sorgerechtsübertragung auf den anderen Elternteil erforderlich sein. Sind die unter Nr. 9 S. 5 genannten Kriterien erfüllt, ist auch in diesen Fällen in der Hauptsache der begleitete Umgang dem Umgangsausschluss vorzugswürdig.
- Die betroffenen Kinder werden – falls erforderlich in einem besonderen vor der Elternanhörung liegenden Termin – ggf. im Beisein eines Sachverständigen – angehört. In der Ladung wird der andere Elternteil auf seine Abwesenheitspflicht hingewiesen. Das Gericht trifft Vorsorge, dass die Anhörung in einem geschützten Rahmen stattfinden kann. Auf spezifische Unterstützungsangebote für Mädchen und Jungen wird hingewiesen.
- Zur Vermeidung von Mehrfachanhörungen ist mit Zustimmung der Sorgeberechtigten, des Verfahrensbeistands sowie des über 14-jährigen Kindes auch eine Videovernehmung möglich. Nähere Einzelheiten auf der Homepage des AG München: http:/www.justiz.bayern.de/gericht/ag/m/daten/00641/index.php